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Freitag, April 26, 2024

Epilepsie: Wenn das Gehirn einen Kurzschluss hat

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Beratungsstelle für Kinder und Erwachsene in Niederbayern feiert 20. Geburtstag – Onlineveranstaltung am 7. Oktober 2021

Passau. „Angefangen habe ich mit einem Schreibtisch und einem Computer – der Rest hat sich über die letzten 20 Jahre entwickelt“, formuliert Ulrike Jungwirth die Anfänge der Epilepsieberatungsstelle für Niederbayern an der Kinderklinik Dritter Orden Passau. Die gelernte Krankenschwester und Diplom-Sozialpädagogin hatte sich damals als Leiterin auf die ausgeschriebene Stelle beworben. In der damals neuen Beratungsstelle für den Regierungsbezirk Niederbayern, hatte sie zunächst ein freies Tätigkeitsfeld vor sich – viele Chancen, aber auch eine große Herausforderung.

Im Laufe der Jahre haben sich die Aufgaben an der Beratungsstelle durch die vielfältigen Fragestellungen ergeben, die von den Ratsuchenden herangetragen wurden: Ob in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, am Ausbildungsplatz, im Betrieb oder im Sportverein; eine Epilepsieerkrankung wirft in verschiedensten Lebensbereichen sehr viele Fragen und Unsicherheiten auf. Mittlerweile kann Ulrike Jungwirth auf 20, sehr abwechslungsreiche Dienstjahre zurückblicken. Neben der Hauptstelle an der Kinderklinik Dritter Orden Passau – mit einer halben Sekretariatsstelle – wurde zusätzlich vor nunmehr neun Jahren eine Außenstelle an der Kinderklinik St. Marien in Landshut gegründet.

Bayern gehört im deutschlandweiten Vergleich mit mindestens einer Epilepsieberatungsstelle pro Regierungsbezirk zu den durchaus gut ausgestatteten Bundesländern, was die Anlaufstellen für Erkrankte angeht. Die bayerische Epilepsieberatungsstellen sind dabei eng untereinander vernetzt. „Da durchschnittlich fast jeder 100ste Mensch unter Epilepsie leidet, ist es wichtig, dass auch genügend Beratungsstellen zur Verfügung stehen. Das Krankheitsbild birgt, neben dem medizinischen Versorgungsbedarf durch Fachärzte und Kliniken, zahlreiche Fragen, individueller, familiärer, sozial-gesellschaftlicher und rechtlicher Art – und nur, wer als Betroffener, Angehöriger oder als Person im sozialen Umfeld umfassend über die Erkrankung Bescheid weiß, kann sie gut in den Alltag integrieren und bestenfalls als Botschafter für die Epilepsie fungieren“, ist die Leiterin der Beratungsstelle Niederbayern überzeugt.

Die chronische Krankheit ist extrem vielschichtig und kann jeden treffen, in jedem Lebensalter, egal welcher Herkunft, Kultur oder sozialer Schicht. In den meisten Fällen ist Epilepsie gut behandelbar. In Niederbayern sind etwa 11.500 Menschen an Epilepsie erkrankt, dabei sind vor allem Kinder und Jugendliche und zunehmend Senioren davon betroffen. Rund 70 Prozent der Patienten werden anfallsfrei. „Einfach formuliert, ist Epilepsie ein Kurzschluss im Gehirn, der im Normalfall von alleine wieder aufhört und nicht automatisch ein Notfall ist“, will die Diplom-Sozialpädagogin gleich vorweg Berührungsängste abbauen. „Mit der richtigen Behandlung und Therapiearbeit kann man mit der Krankheit im Alltag meist gut zurechtkommen – das Schwierige ist, zunächst die Epilepsie als solche zu akzeptieren und anzunehmen.“

Epilepsie heiße dabei nicht automatisch, dass man unter Krampfanfällen leide – Epilepsie hat viele Erscheinungsbilder! Grundsätzlich komme es zunächst darauf an, wo im Gehirn sich der Anfall abspiele. „Ist der Anfall beispielsweise auf das Sehzentrum begrenzt, kann der Betroffene visuelle Auren haben und Blitze oder Farbpunkte sehen. Es kann aber auch sein, dass man plötzlich etwas riecht oder schmeckt, was gar nicht vorhanden ist, dass die Hand krampft, das Auge oder der Mundwinkel zucken, das Bein kribbelt oder man unter Sprechstörungen leidet – es gibt eigentlich nichts, was es nicht gibt“, erklärt Ulrike Jungwirth. Genau das mache es auch manchmal so kompliziert, das Krankheitsbild als solches dingfest zu machen.

Bei Auffälligkeiten steht eine Vielzahl an Untersuchungen zur Verfügung, wie beispielsweise MRT, EEG und Schlafentzugs-EEG, um letztlich auszumachen, welche Region im Gehirn tatsächlich betroffen ist. Nicht selten wird dann deutlich: Der erste Anfall war gar nicht der erste Anfall, sondern wurde früher nur nicht als solcher identifiziert. Nach der Diagnosestellung gilt es, den Patienten und seine Angehörigen aufzufangen und zu begleiten. „Nach erfolgter fachärztlicher Aufklärung und Beratung durch einen Neurologen/Neuropädiater ist es mit am wichtigsten den Betroffenen und Angehörigen fundierte Informationen an die Hand zu geben.

Seit 2004 bietet die Epilepsieberatungsstelle Niederbayern ergänzend zu den Beratungen, Patientenschulungen für Betroffene und deren Angehörige an. „Das Schulungsprogramm Epilepsie, genannt „MOSES“, wurde zertifiziert durch die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE). 2014 erhielten wir von der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen in Bayern die offizielle Anerkennung als „MOSES-Schulungszentrum“. Kindern mit Epilepsie, Geschwisterkindern und Eltern können wir seit einigen Jahren mit einem vierköpfigen Trainerteam an der Kinderklinik in Passau außerdem das Epilepsie-Schulungsprogramm „famoses“ anbieten (Familien-Schulungsprogramm Epilepsie)“, gibt die Leiterin der Beratungsstelle Einblick in das umfassende Leistungsspektrum. 2017 erfolgte schließlich die offizielle Anerkennung durch die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) als „Zertifizierte Beratungsstelle für Menschen mit Epilepsie“. „Über die Jahre haben wir den Aufbau von Gesprächsgruppen für Menschen mit Epilepsie in Passau und Landshut begleitet und unterstützt. Zusammen mit den Mitgliedern organisieren wir regelmäßig Seminare, Veranstaltungen, Fachvorträge und gemeinsame Unternehmungen.“
Unter dem Motto „Gemeinsam stark“ begeht die Beratungsstelle ihr Jubiläum kommenden Donnerstag (7. Oktober) ab 19 Uhr mit einer groß angelegten Online-Veranstaltung, gemeinsam mit Entertainer Lucas Fischer und Medizinsoziologe Rupprecht Thorbecke, der aktuelle Studienergebnisse über Meinungen und Einstellungen in der Bevölkerung zum Krankheitsbild vorstellen wird.

Mehr Informationen und das Anmelde-Tool finden Sie online unter www.mykinderklinik.de/veranstaltungen-kurse.

Mit Blick auf die Feierlichkeiten will es auch der Ärztliche Direktor der Kinderklinik Dritter Orden Passau, Prof. Dr. Matthias Keller, nicht verpassen, sich für die langjährige und gute Zusammenarbeit, auch mit den Trägern, zu bedanken. „Wir wünschen der Beratungsstelle nur das Beste, auf dass sie weiterhin vielen Menschen helfend zur Seite stehen kann.“
Beim Blick auf die letzten 20 Jahre Arbeit in der Epilepsieberatungsstelle kann Jungwirth mit ihrem Team übrigens auch ein bisschen stolz feststellen: „Wir haben viel erreicht und gleichermaßen weiter viel Arbeit vor uns.“ Schließlich unterliege auch dieses Krankheitsbild dem gesellschaftlichen Wandel und bringe stets neue Fragen mit sich. „Für uns wird es immer darum gehen herauszufinden, was den Menschen am besten weiterhilft. Auch wenn es manchmal viel Kraft kostet und man schon auf sich Acht geben muss – wir machen unsere Arbeit sehr gerne. Wir möchten den betroffenen Menschen, ihren Familien und dem sozialen Umfeld möglichst die Angst nehmen und mit ihnen gute Perspektiven erarbeiten.“ Ziel sei es dabei stets eine möglichst selbstbestimmte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen – mit und trotz der Epilepsieerkrankung.


Die Epilepsieberatungsstelle Niederbayern wird finanziert zu Teilen vom Freistaat Bayern, dem Regierungsbezirk Niederbayern und der Kinderklinik Dritter Orden Passau als Träger der Beratungsstelle.

Mehr Informationen und Termine finden Betroffene auch unter: www.epilepsieberatung-niederbayern.de sowie auf der gemeinsamen Website der bayerischen Epilepsieberatungsstellen: www.epilepsieberatung-bayern.de.

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