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Sonntag, April 28, 2024

Graf Hansi erzählt

Lesestoff

Aus der einst im böhmisch-bayerischen Grenzland ansässigen Adelsfamilie Coudenhove-Kalergi kamen Diplomaten, Schriftsteller, Journalisten und visionäre Köpfe. In Bernhard Setzweins neuem Roman “Der böhmische Samurai“ spielt jedoch ein Lebemann die Hauptrolle.

(von Tobias Schmidt)

Er zimmerte aus Geschichten um Staubsaugervertreter und Wirtshäuser im böhmisch-bayerischen Grenzland bereits eine Romantrilogie im Nachgang des Grenzfalls von 1989, ließ den Philosophen Friedrich Nietzsche auf Schweizer Bauern treffen, stellte monologisierende Henker auf Schauspielbühnen, ja und sein wunderbares Jean Paul-Brevier sei hier auch unbedingt noch einmal erwähnt. Keine Frage, der auch Zeitungslesern und Hörern des Bayerischen Rundfunks gut bekannte Autor Bernhard Setzwein kennt sich aus mit Stoffen, in denen die Kultur- und Weltgeschichte im (meist ostbayerischen) Grenzland Station macht. Vergangene Woche erschien Setzweins bislang umfangreichster Roman “Der böhmische Samurai“ im Innsbrucker Haymon Verlag. Ein an zwei Zeitachsen aufgehängter, über fünf Jahre recherchierter mitteleuropäischer Figurenreigen, der den Leser einmal durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts führt.
Dreh- und Angelpunkt ist der böhmische Adlige Johannes Evangelist Virgil Reichsgraf Coudenhove-Kalergi, Sohn des österreichischen Diplomaten Heinrich Graf von Coudenhove-Kalergi und seiner japanischen Frau Mitsuko Aoyama, der 1945 nach der Vertreibung aus seinem Schloß völlig verarmt nach Regensburg kam, dort 1965 starb, bis heute aber durch sein exzentrisches Verhalten in Erinnerung geblieben ist. Bekannter ist sicherlich sein jüngerer Bruder Richard, der die paneuropäischen Ideen und den religiösen Liberalismus des Vaters ausarbeitete und in die Welt trug. Dass man heute Friedrich Schillers, von Ludwig van Beethoven vertonte “Ode an die Freude“ als Europa-Hymne singt, geht auf diesen böhmischen Grafen zurück. Die Kirchenhistorikerin Ida Görres, bekannt durch zugänglich geschriebene Lebensbilder berühmter Heiliger, war ebenfalls eine jüngere Schwester des Grafen Johannes, den alle “Hansi“ nannten.

Mumie, Menschenfresser und Marotten

Er war ein Exzentriker, ein Traumtänzer, dem es aber nicht an Prestigebewusstsein mangelte und der zehn Sprachen beherrschte. Ein Schürzenjäger, der sich selbst im heimischen Schloss Ronsperg (heute Poběžovice, etwa auf Höhe von Schönsee, wenige Kilometer hinter der deutsch-tschechischen Grenze gelegen) in Gestalt eines überlebensgroßen Keramikofens nach seinem Abbild im Morgenmantel verewigen ließ; der in Begleitung einer Mumie reiste, die er bei Gesellschaftsabenden zur Schau stellte; der sich einen Stammbaum mit Verbindungen zu allerlei Schurken der Weltgeschichte zulegte; sein Auto in den heraldischen Farben der Familie lackiete und sich das Pseudonym Duca di Centigloria, zulegte, als solcher Münzen mit seinem Konterfei prägen ließ und unter diesem Cognomen im Alter noch einen (bis heute erhätlichen) Menschenfresser-Roman publizierte. “Graf Hansi“ betrachtete seine Umwelt durch ein Lorgnon, eine von ihm eigentlich nicht benötigte, an einem Stab befestigte Lesehilfe. Diese Marotte symbolisierte gewisse ine Perspektive “von gestern“, doch zeichnet Setzwein den schrulligen Grafen Hansi nicht als Ewiggestrigen. Gelegentlich als Unsympathen, der sich nicht nur dem Leser zu entziehen weiß. Bei Verhören im Internierungslager von Chrastavice zur Zeit der Beneš-Dekrete  wahrt er Kontenance, überdies gelingt ihm eine listenreiche Flucht. Die Erlebnisse im Internierungslager bilden einen eigenen Erzählstrang, der geschickt mit dem 1896 bei der Ankunft der Grafenfamilie aus Tokio beginnenden und mit einem Regensburger Epilog endenden Romanfluss verworben ist.

Facettenreicher Familienroman

Hier entfaltet Setzwein ein aspektreiches Tableau der Zeitläufte. Vieles perlt ab, doch je weiter die Handlung – hier also ‚die Geschichte‘ – fortschreitet, desto intensiver muss sich Graf Hansi ihr stellen: Landbevölkerung und weltläufige Herren, untergehende Donaumonarchie, die in der Provinz aufeinandertreffende böhmische und japanische Kultur, Dialog mit dem Judentum, Erster Weltkrieg, technologische Neuerungen, Wandel der Rollenbilder der Geschlechter, die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit streift Setzwein ebenfalls kursorisch, der Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschlands aus der Perspektive des Böhmerwald-Grenzlands, Vertreibung aus der Heimat, Zerstreuung einer Familie, deren Mitglieder sich immer fragen, ob sie eigentlich eine Familie waren…
Die Motivik dieses Romans ist mindestens genauso facettenreich wie der Protagonist. Selbst für einige detailliertere Personenzeichnungen ist Raum, so zum Beispiel bei Johannes‘ Ehefrau Helene “Lilly“ Steinschneider, einer aus Budapest stammenden Jüdin und eine der ersten Pilotinnen der k.u.k.-Monarchie. Gleiches gilt für die Mutter des Grafen, die zunehmend vereinsamende japanische Kuafmannstochter Mitsuko Aoyama, den Ronsperger Rabbiner oder auch den Kommandanten des Internierungslagers. Stellenweise mag einem dieser Roman wegen der Fülle der Geschichten in der Geschichte “geschwätzig“ vorkommen, doch er zerfasert inhaltlich nie, denn neben der Person des Grafen bildet das kleine Landstädtchen Ronsperg, das Zentrum steter Rückkehr, den Spiegel sozialer Entwicklung und den Nukleus weiteren Geschehens. Dass dies, etwa die Entwicklung des paneuropäischen Gedankens im Skizzenhaften bleibt, ist Absicht. Auch der name des Grafengeschlechts taucht in diesem Roman einer Familie in den europäischen Zeitwende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie auf. Weil er Leser ansprechen soll, die auf der Suche nach der großen Geschichte im Kleinen sind.

Ein Buch für Freunde der Literatur eines Ehm Welk oder (wie noch bei jedem Setzwein) Bohumil Hrabals.

Bernhard Setzwein stellt “Der böhmische Samurai“ am Dienstag, 21. März 2017 im Scharfrichterhaus vor. Die vom Passauer Pegasus und Bücher Pustet veranstaltete Lesung beginnt um 20 Uhr; Karten zu 10 Euro (ermäßigt 8 Euro) sind ab sofort beim Kulturbüro des Scharfrichterhauses und bei Bücher Pustet reservierbar.

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