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Montag, April 29, 2024

Das Bezirksklinikum Mainkofen in der NS-Zeit – Verhungert, vergiftet, vergast

Lesestoff

DGB-Kreisverband Deggendorf widmet sich den Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus dort begannen wurden | Gedenkstätte erinnert an die rund 1.300 Opfer der „Euthanasie“

Mainkofen / Deggendorf.  Fast 70 Jahre erinnerte in Mainkofen nichts an die rund 1.300 Frauen, Männer und Kinder, die hier systematisch verhungerten, vergiftet oder in Hartheim bei Linz, der nächstgelegenen Tötungsanstalt, vergast wurden – dass am 28. Oktober 2014 eine Gedenkstätte auf dem Klinikfriedhof eingerichtet wurde, ist schlussendlich einer Hamburgerin und eines Bayern zu verdanken, die nicht aufhörten, gegen die Mauern des Schweigens und Vergessens anzukämpfen.

Unter der Leitung von Bettina Blöhm (Regionssekretärin, DGB-Niederbayern) trafen sich Mitglieder des DGB-Kreisverband Deggendorf am 6. Juli im Bezirksklinikum Mainkofen, um den Opfern der Euthanasie zu gedenken und um mehr über die Rolle und dunkle Vergangenheit des Bezirksklinikum Mainkofen in der NS-Zeit zu erfahren.

In Empfang genommen wurde die DGB-Delegation durch Gerhard Schneider, eben jenen Bayern, ehemaliger Verwaltungsangestellter und späteren Krankenhausdirektor (2015 bis 2021) von Mainkofen. Schneider war es auch, der im Anschluss den Vortrag hielt und so den Anwesenden ein umfangreiches Bild über das schreckliche Geschehen im Bezirksklinikum mit auf den Weg geben konnte.

David gegen Goliath

Gerhard Schneider wuchs direkt neben der Psychiatrie Mainkofen auf. Das damalige Klinikgelände war ein kleines Dorf und auch sein Spielplatz. Wie er sagt, war für ihn die Klinik viele Jahre die fortschrittliche Reformklink, in der Patienten schon seit 1911 nicht wie Gefangene lebten. Doch bald entdeckte Schneider jedoch, was Mainkofen noch war: eine Tötungsanstalt.

Die Geschichte führt zurück in dunkle und feuchte Kellerräume von Mainkofen. Vor 41 Jahren stand Gerhard Schneider – zunächst als Leiter der Kosten- und Leistungsrechnung – genau hier und kopierte Unterlagen. Schneider kann sich an den Moment noch genau erinnern; sein Interesse galt einem Container, in welchem sich haufenweise bereits vergilbte Blätter und Akten befanden – dieses Papier sollte eigentlich im Kesselhaus der Anstalt verbrannt werden – aus Platzgründen. Schneider nahm sich ein paar Blätter, schaute genauer hin, las sie durch. Wörter wie Zwangssterilisation oder Erbgericht waren zu entnehmen. „Es war kein Zufall, dass diese Unterlagen im Abfallcontainer lagen“, sagt er. Klar war ihm aber auch, dass er seinen Job riskiert hätte, würde er die Akten vor der Vernichtung retten. Was also tun? Er tat das Richtige.

Und so betont der ehemalige Krankenhausdirektor noch heute, dass wenn damals Angehörige wissen wollten, wie ihre Verwandten in Mainkofen gestorben wären, es stets hieß: Es gebe keine Unterlagen. Und dieselbe Antwort wurde unter anderem auch dem Bayerischen Staatsarchiv serviert, als diese sich, im Rahmen der geschichtlichen Aufarbeitung, erkundigen wollte. Dasselbe Statement, über viel zu viele Jahre hinweg: In Mainkofen sei nicht getötet worden. Schneider: „Ich las damals aus den Unterlagen aber etwas ganz anderes.“

Über 12.000 Akten versteckt – und gerettet

Gerhard Schneider nahm sich den Unterlagen an und versteckte sie in der Sakristei unter der Klinikkirche. Abends und in seiner Freizeit wertete er diese Schriftstücke aus, rekonstruierte die „Hungerkost“ und die Todestransporte. Dies geschah alles im Geheimen, denn darüber informieren konnte er noch nicht – noch nicht.

Ende der 90er Jahre dann endlich ein Lichtblick. Die Bayerischen Bezirke planten ein Buch über Psychiatrie in der NS-Zeit. Die Klinikleitung beauftragte dazu eine Ärztin, die jedoch – so Schneider – keine Ahnung von der gesamten Thematik hatte. Das sei absichtlich so gewesen. Und selbst als er der Ärztin seine Hilfe anbot, sagte sie unmissverständlich: „Ich habe Kontaktverbot mit Ihnen“.

Ab 2002 konnte Gerhard Schneider dann zumindest offen und nicht mehr versteckt weiter forschen; dank einer neuen Klinikleitung. Doch offen und transparent thematisierte die Klinik die Geschichte weiterhin nicht.

Schneider, der „Nestbeschmutzer“

Wir schreiben das Jahr 2010. Schneider berichtet im Radio über den Arzt Karl Brettner. Dieser war verantwortlich für Hunderte Zwangssterilisationen in Mainkofen. Doch strafrechtlich verfolgt wurde der Arzt nicht. Ganz im Gegenteil: so wurde dem Arzt von der Stadt Plattling der Ehrenbrief zuteil, und es wurde im Ortsteil Enzkofen eine Straße nach ihm benannt. (Anmerkung: Die Dr.-Brettner-Straße wurde am 2. Januar 2015 zur Sonnenstraße umbenannt. Nach über vier Jahren – nach Antragstellung durch Petrilak-Weissfeld für die SPD-Stadtratsfraktion – zog die Stadt endlich die Konsequenzen.)

Und Schneider? Er wurde als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Und das nicht nur von Seiten der Klinik selbst. Denn schließlich wäre Mainkofen der größte Arbeitgeber vor Ort – und auch sonst soll nichts das Bezirksklinikum verschmutzen.

Rolf Haubenreisser – in Mainkofen verhungert

Karen Haubenreisser reiste im April 2011 nach Mainkofen. Sie wollte mehr über das Schicksal ihres Onkels Rolf Haubenreisser erfahren. Nachdem auch ihr Vater bei Recherchen in den 80er Jahren gesagt wurde, es sei doch nichts in Mainkofen gewesen, blieb sie hartnäckig. Fakt: Rolf Haubenreisser war zu jener Zeit neun Jahre alt, als er in der niederbayerischen „Heil- und Pflegeanstalt“ Mainkofen verhungerte. Die Nationalsozialisten ließen Rolf sterben, weil er geistig behindert war und sein Leben somit als „lebensunwert“ galt.

Auf dem nahegelegenen Friedhof sind immer noch ca. 1000 Menschen begraben (Foto: DGB)

Beim Besuch in Mainkofen stellte Karen Haubenreisser fest, dass die Gräber der NS-Opfer verwildert waren, teils auch nicht mehr auffindbar. Auch das Grab ihres Onkels war nicht mehr zu finden. Die Hälfte des Friedhofs war bereits zu einer neuen Parkanlage umgestaltet worden. Karen Haubenreisser wandte sich an die Klinikleitung, Antworten blieben aber aus.

Zurück in der Hansestadt gab es eine öffentliche Gedenkfeier für die Opfer der Euthanasie, auch ein Stolperstein für Rolf wurde verlegt. Diese Aktion wirbelte in der Presse regelrecht Staub auf, und auch in Bayern wurde man wach. So führte all dieser Druck dazu, dass der damalige Bezirkstagspräsident von Niederbayern offiziell die bewusste Tötung ihres Onkels in Mainkofen bestätigte – das reichte jedoch Karen Haubenreisser nicht. Sie forderte weiter, dass das Schicksal jedes einzelnen Opfers in einer Gedenkstätte sichtbar zu machen sei. Und es stellte sich ebenso heraus, dass es in Mainkofen sehr wohl noch jemanden gab, der sich mit der NS-Geschichte des Klinikums Mainkofen auskannte und ebenso hartnäckig um die Sache kämpfte: Gerhard Schneider.

(Foto: DGB)

„Den Opfern eine Stimme geben“

Später präsentierte Schneider auf einem Symposium unter dem Titel „Den Opfern eine Stimme geben“ erstmals öffentlich sein gesammeltes Wissen: „Bis Mitte der 90er Jahren wurden Akten systematisch vernichtet“, berichtete er den rund 200 Teilnehmenden. Die Nationalsozialisten wollten verhindern, dass Menschen, die sie „erblich krankbelastet“ nannten, eigene Kinder bekamen. Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft: „Dieses Gesetz wurde in allen bayerischen Anstalten umgesetzt, bei den Sterilisationsaktivitäten gehörte Mainkofen zu den Spitzenreitern.“ – jüngstes Opfer war ein 15-jähriger Junge.

Doch das war erst der Anfang einer Kette von Grausamkeiten in Mainkofen. Hitler wartete zuerst den Überfall auf Polen ab, um dann zum Massenmord an psychisch und physisch behinderten Menschen überzugehen. Er ging davon aus, dass mit Kriegsbeginn der Protest der Kirchen und Familienangehörigen an der Verfolgung und Ermordung Behinderter nicht mehr so stark sein würde.

Unter der Bezeichnung T 4 wurden alsdann die Massenmorde durchgeführt. T 4 stand für die zuständige „Behörde“ in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Im gesamten Reichsgebiet wurden sechs Tötungsanstalten errichtet. Mainkofen war mit der Anstalt bei Linz verbunden. Schneider konnte bei seinen Recherchen insgesamt fünf Todestransporte von Mainkofen nach Linz ausmachen: „Die beiden ersten Transporte fanden im Oktober 1941 statt.“

(Foto: DGB)

Weitere Todestransporte waren im ganzen Reichsgebiet geplant. Gestoppt werden konnten diese nach einer Rede von Bischof Graf von Gahlen im August 1941 (Anmerkung: August 1941, in seiner wohl bekanntesten Predigt: „Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.“)

(Foto: DGB)

Doch die systematischen Ermordungen gingen weiter. Schnell fand das bayerische Innenministerium am 30. November 1942 eine „Umgehung“: den bayerischen „Hungerkosterlass“. Den ‚Patienten‘ wurde am Tag nur eine dünne Gemüsesuppe verabreicht. Durch das Fehlen von Brot, Kartoffeln und Fleisch (Fett) verhungerten die Menschen binnen weniger Tage. Den Patienten nahm man die Kleider weg, sie lagen nackt im Bett und ohne Bezüge. Auf diese grausame Art und Weise verhungerten alleine in Niederbayern 1000 Menschen. Darunter auch Rolf Haubenreisser. Sein Name ist Teil der heutigen Gedenkstätte in Mainkofen, die am 28. Oktober 2014 eröffnet wurde. In der Ausstellung werden alle bisher ermittelten Opfer namentlich veröffentlicht.

An der Gedenkstätte am Bezirksklinikum Mainkofen informiert Gerhard Schneider weiter… (Foto: DGB)

Die Wahrheit über das Bezirksklinikum Mainkofen während der NS-Zeit und auch schon davor kam so endlich ans Licht – 70 Jahre danach.

DGB-Kreisverband Deggendorf (nicht alle im Bild) an der Gedenkstätte versammelt (Foto: DGB)

(Foto: DGB)

Es war ein sehr aufschlussreicher Abend für die Teilnehmenden des DGB-Kreisverbands. Im Namen aller bedankte sich Bettina Blöhm, Regionssekretärin DGB-Niederbayern bei Gerhard Schneider – nicht nur für sein Engagement an diesem Tag, sondern auch für seine Bereitschaft, weiterhin Aufklärungsarbeit zu leisten.

Die Mainkofner-Gedenkstätte ist frei zugänglich. Wer Interesse an einer Gedenkstättenführung hat, kann sich mit dem Bezirksklinikum Mainkofen (sekretariat-krankenhausdirektor@mainkofen.de) in Verbindung setzen – weitere Informationen unter: https://www.mainkofen.de/ueber-uns/gedenkstaette/


Euthanasie im Dritten Reich

Im nationalsozialistischen Deutschland wurden geschätzte 600.000 Menschen zwischen 1933 und 1945 Opfer der NS-Rassenideologie. Ungefähr 400.000 dieser Opfer wurden gegen ihren Willen sterilisiert, weitere 200.000 starben entweder an den Folgen oder wurden planmäßig ermordet.

Allein zwischen 1940 und 1941 wurden mehr als 70.000 Männer, Frauen und Kinder in sechs „reichsdeutschen“ Tötungsanstalten vergast.

Nach 1945 endeten in ganz Deutschland Ermittlungen und Verhandlungen gegen Ärzte oder Psychiater mit Freisprüchen oder geringen Strafen. Wie am Beispiel Mainkofen wurde die „Euthanasie“-Geschichte aktiv beschwiegen, ja sogar verleugnet. Erst in den 1980er Jahren begann die Aufarbeitung. Mittlerweile sind alle früheren Gasmordanstalten von Hadamar bis Hartheim Erinnerungsorte. Auch in vielen Psychiatrien wird heute der „Euthanasie“ gedacht – das Bezirksklinikum Mainkofen war damit extrem spät dran.


Vom Begriff der „Euthanasie“ zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“

Das Wort „Euthanasie“ setzt sich in seinem Ursprung aus dem altgriechischen „eu“ (gut) und „thanatos“ (Tod) zusammen. Der Begriff wurde in der griechischen Antike unter anderem als Bezeichnung für einen Tod verwendet, welcher ohne lange Leidensphase eintrat.

Erst in der Frühmoderne wurde der Begriff um ärztliches Handeln erweitert. Dieses zielte auf die Ermöglichung eines schmerzfreien Todes ab, ohne dass in den natürlichen Prozess des Sterbens an sich eingegriffen wurde. Mit dem Beginn der Moderne, besonders seit Ende des 19. Jahrhunderts, wurde der Begriff auch in Verbindung mit der Tötung schwerkranker und unheilbar kranken Menschen diskutiert. Seine Bedeutung reicht dabei von Sterbehilfe über die „Tötung auf Verlangen“ bis hin zur gezielten Ermordung von als „lebensunwertes Leben“ stigmatisierten Menschen aufgrund von eugenischen bzw. „rassenhygienischen“ Kosten-Nutzen-Überlegungen. Es ist deshalb wenig ratsam, den Begriff „Euthanasie“ voraussetzungslos und unreflektiert zu verwenden.

Für die Zeit von 1939 bis 1941 beschreibt der Begriff NS-„Euthanasie“ industriellen Massenmord, gleich ob die Beschreibung aus historischer, juristischer oder allgemein ethischer Perspektive geschieht.

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