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Hutthurm
Donnerstag, Mai 2, 2024

Eine Geschichte zur Vorweihnachtszeit

Lesestoff

‚Leckerl‘

(von Rupert Berndl)

In anderen Landstrichen nennt man sie Kekse, Plätzchen, Plätzerl oder Platzl. Bei uns heißen sie Leckerl und sind fester Bestandteil vorweihnachtlicher Rituale. Denn nur, wenn neben dem adventlichen Kerzenduft der heimelige Geruch dieser wundersamen Kalorienspender das Haus durchzieht, wird die ersehnte Weihnachtsstimmung so richtig angefacht. Sie wirken sowohl auf das Auge, als auch auf die Geschmacksnerven ausgesprochen verführerisch. Deshalb schaffen es in der Regel nur griesgrämige Weihnachtsmuffel, eiserne Asketen und auf ihre Linie bedachte Spätpubertierende, sich diesen süßen Verlockungen zu widersetzen. Allen anderen, die sich diesen traditionsbeladenen Leckereien mehr oder weniger hemmungslos hingeben, polstern sie den Bereich zwischen Hüften und Nabel ganz allmählich, aber erbarmungslos auf. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, sie würden nach dem Verzehr, unter Umgehung des üblichen Verdauungsweges, schnurstracks auf diese Problemzonen zusteuern und sich dort in voller Gewichtigkeit anlagern.

Die Rezepturen für diese gebackenen Köstlichkeiten werden meist in der weiblichen Linie weitervererbt. Abgefasst in sauberer Handschrift und zusätzlich versehen mit allerhand Verbesserungsvorschlägen. In diversen Versuchsreihen erprobt, sollen diese dazu beitragen, den Geschmack raffiniert zu veredeln, die Arbeitsschritte zu optimieren und damit das Gelingen zwangsläufig garantieren. Der über Generationen weiblicher Leckerlproduktion angehäufte Erfahrungsschatz beruht sicherlich auch auf bitteren und harten Erkenntnissen aus zahlreichen Misserfolgen. Learning by doing! Deshalb unterliegen diese Familienrezepte verständlicherweise einer gewissen Geheimhaltung. Verschiedene Tricks bezüglich eingesetzter Gerätschafen und Hilfsmittel sowie ausgetüftelte Mengenangaben und raffinierte Beimischungen von allerlei Gewürzen in Spurenelementgröße, werden ausschließlich an die leibliche Tochter weitergegeben. Allenfalls gewährt man noch der Schwiegertochter einen vagen Blick in die geheimnisvolle Welt der Weihnachtsbäckerei. Des Sohnes wegen. Außenstehende erfahren gar nichts.

Schließlich stehen die backenden Hausfrauen in der Adventszeit in einer Art Konkurrenzkampf. Maßstab ist da zunächst die Anzahl der unterschiedlichen Leckerlsorten. Unter zehn gilt gemeinhin als indiskutabel und stümperhaft. Über fünfzehn vermag zu beeindrucken. Und über zwanzig wird nach außen hin zwar lautstark bewundert, aber mit aufsteigender Zahl innerlich zunehmend von Neid und Missgunst begleitet. In zweiter Linie zählt die Qualität. Jede Weihnachtsbäckerin will die leckersten Produkte auftischen, wenn man sich in der Adventszeit bei Kaffee und Tee trifft und untereinander die Backergebnisse verkostet. Natürlich werden die alle in den höchsten Tönen gelobt. Sogar die ungesüßten, als besonders gesund gepriesenen Bioleckerl, die genauso schmecken, wie sie aussehen. Zuhause wird dann dem eher lustlos zuhörenden Partner vom traditionellen Leckerldate ausführlich berichtet. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit fällt die Bewertung der Konkurrenzbackwaren weit weniger schmeichelhaft aus. Von „fader Dinkelmehlpampe“ ist da die Rede, als „ harte Margarineboz`n“ oder „z`ambikte Sogschoat`n“ werden manche Backergebnisse gnadenlos beurteilt.

Der versierte männliche Partner und Ehemann weiß natürlich um die Fallstricke, die mit diesen Wertungen zugleich ausgelegt sind. Man erwartet von ihm das uneingeschränkte Lob der angetrauten Backkünste. Aber ja nicht zu dick auftragen! Das zeitigt Skepsis. Frauen sind in dieser Beziehung sehr hellhörig und empfindsam. Ein “deine Leckerl schmeck`n mir am best`n“, ist genau richtig. Personenbezogen, individuell, glaubhaft.

Gerne werden in der Vorweihnachtszeit zu verschiedensten Anlässen Plätzchen angeboten. Von der Sekretärin, am Arbeitsplatz in der Mittagspause, in der Schafkopfrunde, im Wartezimmer des Hausarztes. Es ist gar nicht klug, das Adventsgebäck aus anderen Küchen als besonders schmackhaft zu preisen. Man ist als Ehemann gut beraten, auf scheinbar harmlose Feststellungen, wie “die Leckerl unserer Putzfrau schmeck`n ausgezeichnet“ gänzlich zu verzichten. Da könnte es nämlich leicht geschehen, dass diese Aussage mit einem schnippischen “dann lass dir doch nächst`s Jahr das Zeug von deiner Putze fabrizier`n“ gekontert wird. Der Kavalier genießt und schweigt besser.

Ein ausgesprochen fieser Leckerlbäckerinnentrick besteht darin, eigene und fremde Produkte gemeinsam auf einen Teller zu legen. Vorsicht! Bloß nichts Außerhäusisches zu sich nehmen! Und wenn, dann zumindest leicht abfällig darüber urteilen! Am besten Fremdplätzchen – und schmeckten sie noch so gut – einfach liegen lassen, quasi verachten und nur die ehefräulichen Backwaren mit leicht verklärtem Blick verdrücken. Dieses, zugegeben etwas schäbige Verhalten trägt ganz wesentlich dazu bei, den weihnachtlichen Frieden zu gewährleisten.
Der Zweck heiligt eben die Mittel.

Bewundern muss ich in dieser Beziehung im Nachhinein meinen Vater. Der lobte, wenn er zur Beurteilung aufgefordert wurde, stets uneingeschränkt die mütterlichen Leckerlkünste. Obwohl unsere Plätzerl, zwar liebevoll gestaltet und geschmacklich gut, immer knochenhart waren. Auch durch längere Lagerung in Blechdosen ließ sich ihr Härtegrad einfach nicht mindern. Selbst die alljährliche Beigabe von Apfelstücken vermochte sie nicht zu erweichen. Die ersehnte Mürbe wollte sich nicht einstellen. Irgendetwas muss da bei der Weitergabe der Rezepte schief gelaufen, unterschlagen, vergessen oder verheimlicht worden sein. Unsere Leckerl hatten bezüglich dieses Mankos etwas von Südtiroler Schüttelbrot. Und da bekanntlich Zahnarztpraxen während der Feiertage geschlossen sind, wurde unser Weihnachtsgebäck vor dem Verzehr sicherheitshalber in heißen Tee oder Kaffee getaucht. Das brach ihre hartnäckige Widerstandskraft.

Die Leckerlrezepte, nach denen meine Frau arbeitet, reichen teilweise zurück in die Tiefen großmütterlicher Holzofenzeit. Backkunst in der dritten, vierten Plätzchengeneration. Erprobt, bewährt. Handschriftlich überliefert auf Papier, das deutliche Gebrauchsspuren aufweist und von der häufigen Konfrontation mit Fett, Mehl und Eiern gezeichnet ist. Meine Frau führt diese für Laien unverständliche, aber von Nostalgie strotzende, unglaubliche Zettelwirtschaft traditionsbewusst weiter. An den Rändern werden für das Gelingen wertvolle Tipps notiert: Über Nacht stehen lassen, eine Stunde kalt stellen, 50 Gramm weniger Zucker, etwas Butterschmalz dazugeben macht geschmeidiger usw. usw.

Überraschend gute Leckerlergebnisse basieren gelegentlich auch auf Rezepten befreundeter Weihnachtsbäckerinnen. Vorausgesetzt, die nach strengsten Maßstäben geprüften Kostproben konnten den häuslichen Gaumen überzeugen. Neuerdings werden bei uns auch Rezepte aus diversen Fernsehbacksendungen umgesetzt. Vornehmlich aus dem Bayerisch-Österreichischen Senderaum. Preußischen Rezepturen misstraut meine Frau grundsätzlich. Und wenn die Sache dann gut schmeckt und auch optisch entspricht, wird die handschriftliche Gebrauchsanweisung in den illustren Zettelhaufen aufgenommen. Den Backvorschlägen aus den zahlreichen Frauenbundkochbüchern begegnet sie mit Vorbehalt und einer gewissen Skepsis. Für ihre Begriffe weisen deren meist wenig präzisen Mengen- und Zeitangaben häufig Mängel auf. Sie vermutet dahinter sogar eine gewisse verschwörerische Grundhaltung. Vielleicht werden für ein Gelingen entscheidend wichtige Hinweise bewusst weggelassen! Das Zeug soll misslingen, vielleicht sogar scheußlich schmecken, um die Plätzerlproduzentin in backtechnischer Hinsicht als Versagerin erscheinen zu lassen! Derlei Kochbücher könnten also mitunter dazu dienen, unliebsame Konkurrenz imagemäßig auszuschalten! Verschwörungstheorien. Wohl arg übertriebene Unterstellungen, und durch nichts zu beweisen.

Dass die Leckerl meiner besseren Hälfte auch einem ausgefuchsten Konditormeister weiß Gott alle Ehre machen würden, wird jedes Jahr von allen Seiten bestätigt und mehr oder weniger neidlos anerkannt. Man kann das auch unschwer ablesen am kontinuierlich wachsenden familiären Speckgürtel. Die kleinen, verführerischen Marzipandoppeldecker mit Marmelade und Zuckerguss, die Spitzbuben mit Johannisbeermarmelade, die Springerle mit Anisgeschmack, die zweifachen Ischler mit Schokorand, das mit rosa Zuckerguss verbrämte Buttergebäck, die Lebkuchen mit Mandelkernen und Nüssen, die Zitronenschnitten und und und… sie schmecken einfach unwiderstehlich. Man verfällt ihnen Jahr für Jahr aufs Neue. Trotz aller guten, adventlichen Fastenvorsätze.

Und doch bangt unsere Familie jedes Jahr dieser backwütigen Vorweihnachtszeit entgegen. Wird es heuer überhaupt Leckerl geben? Meine liebe Frau bäckt nämlich nur, wenn es draußen schneit! Sie braucht den Schnee! Nur dann stellt sich bei ihr die nötige, backfreudige Grundstimmung ein. Bei Sonnenschein und Wärme geht gar nichts! Nebel und Regenwetter dämpfen auch ihre Leckerleuphorie. Nur wenn es richtig schneit und wachelt, blüht sie gebäckmäßig auf. Dann werden die vielen Zutaten besorgt, die verschiedenen Teigvariationen gerührt, geknetet und ausgewalkt. Auch unsere längst erwachsenen Kinder rufen in dieser Zeit häufiger als sonst an und erkundigen sich besorgt nach dem Wetter. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kälteeinbruch mit Schneefall im November und Dezember die Leckerlproduktion begünstigt, ist bei uns im Bayerischen Wald doch immer noch recht hoch. Nur die beharrlich prognostizierte Klimaveränderung mit einer einhergehenden kräftigen Erderwärmung lässt uns um unsere geliebten Leckerl bangen.

(Bildquelle: stock.adobe.com / Johanna Mühlbauer)

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