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Freitag, März 29, 2024

Himmels- und Beziehungsmechanik eines Jahrhunderts

Lesestoff

Thomas Lehr liest im Scharfrichterhaus aus „Schlafende Sonne“. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2017

(von Tobias Schmidt)

Großschriftsteller ist ein fieser Begriff. Weil er nur für publizistische Schmeichelreden oder Diatriben taugt. Und weil man da an Männer wie Grass, Walser, Handke (ja, warum eigentlich nicht an Frauen?) denkt. „Groß“ ist gleich „ergraut“, und wo solche Schreibfedern wirken, bleibt kein Raum für andere Literaten.
Nehmen wir nur einmal den Berliner Schriftsteller und gelernten Biochemiker Thomas Lehr. Den vergleichen manche Literaturexegeten mit Robert Musil (1880-1942), dem österreichischen Erneuerer des Romans im 20. Jahrhundert, einem Großschriftsteller der Großväter sozusagen. „Schlafende Sonne“, der erste Teil einer Romantrilogie von Thomas Lehr, erschien im August bei Hanser. Nach „42“ im Jahr 2005 und nochmals 2010 für „September. Fata Morgana“ wurde Lehr mit „Schlafende Sonne“ 2017 zum insgesamt dritten Mal in die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Die Frankfurter Jury optierte am 9. Oktober für Robert Menasse, und so scheint Thomas Lehr der Posten des ewigen Anwärters zu bleiben. Nun, mit Ewigkeiten kennt er sich ja aus: obschon mit der erzählten Zeit lediglich eines Augusttages im Jahr 2011 angelegt, rekapituliert „Schlafende Sonne“ doch das gesamte 20. Jahrhundert. Ohne Dialoge, und doch persönlich, ja, intim. Mit Anspielungen aus Philosophie und Naturwissenschaft gespickt, die komplexe, aus einer Leitmetapher des Buch selbst heraus erwachsene ‚spiralenartige‘ Erzählform und die Handlung sind aufeinander bezogen. Kurz: 600 Seiten Absage an Erzähltheorie. Oder deren Neuschöpfung – ganz wie man „Großschriftstellerei“ verstehen mag.

Thomas Lehr (Foto: Lilli Kern)

Zum Inhalt: Der Dozent Rudolf Zacharias besucht die Vernissage seiner früheren Studentin und Geliebten Milena Sonntag in Berlin. Sie stammt aus der DDR, ihr Ehemann, ein asexueller Astrophysiker (oha, noch so ein, in Ewigkeitskategorien Bewanderter!) hat eine westdeutsche Sozialisation. Milenas Vernissage wird mehr als eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Mit sprachlicher Kraft werden historische Katastrophen neben die privaten Verwicklungen dreier Menschen gestellt, und Spuren von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin verfolgt – ein grotesk-komisches, tragisches Tableau, eine den Kräften der Himmels- und Beziehungsmechanik folgende Jahrhundertschau.

Am Mittwoch, 18. Oktober, liest Thomas Lehr im Passauer Scharfrichterhaus aus „Schlafende Sonne“. Die von der Buchhandlung Pustet und dem Passauer Pegasus präsentierte Veranstaltung beginnt um 20 Uhr. Karten zu 10,-/ermäßigt 8,- Euro sind unter Tel. 0851 5608913 oder per Email an passau@pustet.de reservierbar.

(Titelbild: Thomas Lehr – Foto: Lilli Kern)

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