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Donnerstag, April 25, 2024

Verbiegungen der Realität. Absurde Volten. Da muss ein Kabarettist einfach ran

Lesestoff

Der Passauer Kabarettist Manfred Kempinger stellt in seinem neuen Programm die Wahrheitsfrage

(von Tobias Schmidt)

Im Jahr 1978 verfasste der Schriftsteller, Dramaturg, Dissident und spätere tschechische Staatspräsident Václav Havel (1936-2011) einen vielbeachteten politischen Essay, in dem er die politische Realität des Lebens im Staate mit der menschlichen Suche nach Authentizität im Dasein abglich. “Versuch in der Wahrheit zu leben“ hieß sein Büchlein, und fragte, worin menschliche Identität gründen könne, und ob die Machtstrukturen entsprechend eingerichtet waren. Waren sie nicht. Havel schrieb von einem “Leben in der Lüge“, in dem Menschen nicht mehr fähig waren, reale Bedürfnisse zu äußern, und so zu mehr oder weniger stillen Mitträgern falscher gesellschaftlicher Verhältnisse wurden. Havel hat immer betont, dass dieser Essay ein Widerwort gegen den Rationalismus der Neuzeit sei, nicht nur bloße Sozialismuskritik. Das macht diesen Text heute noch lesenswert. Gerade heute, möchte man sagen, wo unsinnige Wortschöpfungen wie „Postfaktisches Zeitalter“ zur Charakterisierung der Epoche herhalten müssen, weil der Zeitgenosse in der virtuellen Filterblase nicht mehr zwischen Fakt und Markt- oder Wahlversprechen zu unterscheiden vermag. Erst kippelte der Markt wegen zu vieler irrealer Bedürfnisse, bald kippelt vielleicht auch die demokratische Ordnung. Wegen zuviel Freiheit. Sagen manche…

Ein Brief brachte alles in Gang

…Sicher, Wellness geht anders, aber “es ist wichtig, im Leben die persönlichen Lebenswahrheiten infrage zu stellen“, sagt der Passauer Kabarettist Manfred Kempinger bei unserem Gespräch im Scharfrichterhaus. Und in seinem, schlicht “Wahrheiten“ betitelten, sechsten Soloprogramm, tut er genau dies demnächst öffentlich. “Meist braucht es dafür ja einen äußerlichen Anlass. Bei mir war es ein Brief, der eines Tages ins Haus kam, und der mich fragen lies: Stimmt meine Biographie eigentlich? Und ist noch alles stimmig?“ Also Vor- und Rückschau. Aber funktioniert so ein in eine biographische Situation hinein geschriebenes Kabarettprogramm? “Ich glaube schon. Wir alle begegnen doch im Leben typischen Wahrheitsträgern, beginnend bei den Eltern, den Erziehern oder den Lehrern. Sie machen ihre Wahrheit, zur objektiven Sache und schließlich zu unserer Wahrheit.

Die eigene Wahrheit finden wir nur in kritischer Auseinandersetzung damit“. Doch selbst dabei machen wir uns doch bisweilen etwas vor, erwägen irrwitzigste Möglichkeiten über das Zustandekommen ‚emotional unpassender Fakten‘, um der unangenehmen Konfrontation mit ihnen aus dem Weg zu gehen. “Genau! Und so kommen Verbiegungen der Realität und absurde Volten zustande, da muss man als Kabarettist einfach ran“. Besonders schön sei es, wenn man dies auf der Bühne bis in die Kleinigkeiten hinein ausmalen könne. “Wissen Sie, im Film ‚Brazil‘ (1985 von Terry Gilliam, ehemaliges Mitglied der Komikertruppe Monthy Python gedreht-Anm.d.Red.) ist es ausgerechnet eine kleine Fliege, die in einen Drucker gerät, was zu einem falschen Buchstaben auf einem Haftbefehl führt, und für den (falschen) Protagonisten eine dramatische und auch lächerliche Kausalkette in Gang setzt“.

Die neuen Bühnencharaktere

Gibt Kempinger im neuen Programm dann den sardonisch lächelnden Geschichtenerzähler? Den mahnenden Inhaber der Wahrheit? “Meine Figuren haben sicherlich einen Insiderblick. Aber sie analysieren, wägen ab, sind emotional beteiligt. Sie verhehlen nie ihre Abhängigkeit vom kritisierten Gegenstand, ja sie leiden bisweilen sogar daran. Diesmal treten auf: Ein CSU Ortsvereinsvorsitzender, ein Fernsehkoch, ein Kommunikationsberater, ein Passauer Verwaltungsangestellter im Hochwasseruntersuchungsausschuss und mein kabarettistisches Ich, eine biographische Figur“. Der politische Aschermittwoch als medial inszenierte Wahrheit, Fake News, selbst der momentane Höhenflug des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz sie mitverarbeitet. “Die Figuren sind hier Träger bestimmter Wahrheitsfilter, die sie auf verschiedene aktuelle Fakten anwenden können. Sie illustrieren, aber sie entwickeln sich kaum – sonst wären wir beim Schauspiel. Trotzdem müsse man diese Figuren ‚achten‘. Das heißt zum Beispiel auch, sie von der Bühne zu schicken, bevor sie Karikaturen ihrer selbst werden.“
Manfred Kempinger spielt hier auf sein langjähriges Bühnen-Alter Ego “Peter Hasenschwingerl“, den Passauer Multivereinsfunktionär an, den er 2014 verabschiedete. Die neuen Bühnencharaktere sind flexibler und mehr Kempinger sei auch drin. Ob das dann auch ein schauspielerisches Element sei, schließlich hat er seit Mitte der 1990er besonders bei solch lang angelegten Ensemble-Formaten brilliert. Bei “Ödipum, Carmen und der Burana“ mit Barbara Dorsch unter der Regie von Sigi Zimmerschied im Scharfrichterhaus. Acht herrlich anarchische Sommer lang bis 2005 im Occam-Ensemble des Münchner Lustspielhauses, war als Autor an Produktionen der Münchner Lach- und Schießgesellschaft beteiligt, und nicht zu vergessen als Mitautor und Darsteller der Singspiele der Kabarett-Theatertruppe “treibgut“ bei Passauer Starkbierempfängen. Ensemble-Kabarett scheint (von der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, der Leipziger Pfeffermühle oder dem ältesten bundesdeutschen Kabarett, dem Düsseldorfer Kommödchen einmal abgesehen) ein wenig aus der Mode geraten zu sein? Auch für ihn hat sich dies erst einmal erledigt, Manfred Kempinger lebt gerade wieder ganz gut mit Figuren, die eine Generalidee mit Bestand füllen und tragen können, und den Inhalt jeweils aktuell filtern.

Kabarett und TV: Meist mediale Mesalliance

“Es darf bei alledem aber nicht zu didaktisch herüber kommen, das stört mich ein wenig an aktuellen Formaten, auch etwa an ‚Die Anstalt‘. Ob es quotenbedingt so sein muss, weil das Medium ja ohnehin schon viele Inhalte aufweicht, wer weiß?“ Überhaupt Fernsehen. “Wo unser Platz fürs Kabarett dort einmal sein wird, wenn die redaktionellen Leitlinien verschwunden, und durch formatierte, jederzeit abrufbare, Inhalte ersetzt sind?“ Aber da will der Kabarettist nicht schwarz sehen, “ich sehe das als neue Herausforderung“. Lange Autofahrten mit Beiträgen aus Online-Mediatheken der Radiosender, seien zum Beispiel eine ganz tolle, früher so nicht gekannte Sache. “Na bitte, ein jeder medialer Wandel hat doch auch sein Gutes. Ich hoffe immer noch, dass die Zuschauer wieder aus reiner Neugier ins Kabarett gehen – nicht nur zur Realitätsprüfung des Fernseherlebnisses“. Ist Medienkritik eigentlich kabaretttauglich? Wenn die medial vermittelte Wahrheit uns den Blick auf das essenziell Wichtige verstellt und selbst für wahr angesehen wird, unbedingt, so Manfred Kempinger. Und ist mit einem Mal nah am eingangs erwähnten “Versuch in der Wahrheit zu leben“ von Václav Havel. Bei Kempinger hört sich das so an: “Es wird vielleicht Zeit, dass wir die Demokratie wieder verteidigen lernen und nicht für selbstverständlich nehmen. Nicht nur: Lass mir meine Ruh` und meine 32 TV-Kanäle“.

Manfred Kempingers aktuelles Soloprogramm “Wahrheiten“ erlebt seine Premiere am Donnerstag, 6. April 2017 um 20 Uhr im Passauer Scharfrichterhaus.
Weitere Aufführungen am 7. und 8. April sowie am 20. und 21. April. Karten sind unter Telefon 0851 35900, im Kulturbüro des Scharfrichterhauses oder unter www.scharfrichterhaus.de reservierbar.

(Bildquelle: Schmidt)

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